„Der Welthandel ist eine wesentliche Triebfeder von Wachstum“

Matin Qaim ist Professor für Agrarökonomie und Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. Auf dem Außenwirtschaftstag der Agrar- und Ernährungswirtschaft 2023 berichtet er in seinem wissenschaftlichen Keynote-Vortrag über die ökologische wie ökonomische Bedeutung des Welthandels mit Lebensmitteln. Wir haben im Vorfeld ein Interview mit ihm geführt.

Quelle: Volker Lannert / Universität Bonn

BVE: Wir durchleben gerade multiple Krisen: Was braucht es auf der Produktionsseite, um Ernährungs- und Versorgungssicherheit sowohl national als auch global zu erreichen?
Prof. Dr. Matin Qaim: In Deutschland und Europa brauchen wir uns um unsere eigene Ernährungssicherheit keine großen Sorgen zu machen. Wir sind reich und werden uns deswegen immer ausreichend Lebensmittel leisten können. Wenn wir selbst nicht genug produzieren, dann kaufen wir es eben von anderswo zu, das stellt für uns kein großes Problem dar. Aber im Weltmaßstab ist das anders. Die Nachfrage nach Lebensmitteln und nachwachsenden Rohstoffen ist in den letzten zehn Jahren schneller gewachsen als die landwirtschaftlichen Erträge. Das führt zu einer angespannten Versorgungslage und zu hohen Preisen, worunter arme importanhängige Länder am meisten leiden. Krisen, wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die damit verbundene Blockade der Schwarzmeerexporte im Frühjahr 2022, lösen in dieser angespannten Grundsituation starke Preissprünge aus, die den Hunger in armen Ländern verschlimmern. Hinzu kommt, dass die zu geringen Ertragssteigerungen zu einer vermehrten Rodung von Wäldern und Kultivierung von Naturräumen führen, um die Produktion auf diesem Wege zu steigern, allerdings mit schlimmen Folgen für das Klima und die Biodiversität. Das passiert vor allem in den Ländern des Globalen Südens, wenn die Preise steigen. Wir brauchen dringend einen neuen und nachhaltigen Produktivitätsschub in der Weltlandwirtschaft, um das globale Ernährungsproblem und die Umwelt- und Klimakrise gleichzeitig lösen zu können. Da kann sich auch Europa nicht einfach ausklinken.

BVE: Lockdowns, Abschottung und Renationalisierung: Warum brauchen wir den Welthandel aus wirtschaftspolitischer Perspektive?
Prof. Dr. Matin Qaim: Der Welthandel ist seit langem eine wesentliche Triebfeder von Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung. Ohne den Handel hätten wir die die großen globalen Fortschritte in den Bereichen Armutsbekämpfung und Verbesserung der Lebensbedingungen von Milliarden von Menschen in den vergangenen Jahrzehnten nie erreichen können.

BVE: Inwieweit ist der Welthandel auch für die Ernährungssicherung unerlässlich?
Prof. Dr. Matin Qaim: Viele Länder in Asien und Afrika sind aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und der ungleichen Verteilung von fruchtbarem Land und Wasser nicht in der Lage, sich selbst in ausreichendem Maße mit Lebensmitteln versorgen zu können. Weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung könnte allein durch regionale Produktion in einem Umkreis von 1000 km ausreichend ernährt werden. Dieser Anteil wird mit fortschreitendem Klimawandel weiter sinken, weil die Negativeffekte des Klimawandels den Globalen Süden viel stärker treffen als uns im Globalen Norden. Natürlich muss auch die landwirtschaftliche Produktion in Asien und Afrika weiter gesteigert werden, um die Importabhängigkeit zu reduzieren, aber das bedeutet nicht, dass der Handel als effizienter Mechanismus zum Ausgleich zwischen Überschuss- und Defizitregionen weniger wichtig wird.

BVE: Welche Mythen zum Thema Handel und Entwicklungszusammenarbeit begegnen Ihnen besonders häufig? Warum sind diese Ansichten falsch?
Prof. Dr. Matin Qaim: Der Handel gilt oft als besonders umwelt- und klimaschädlich, weil vermutet wird, dass beim internationalen Transport besonders viele Treibhausgase ausgestoßen werden. Tatsächlich macht der Transport von Lebensmitteln mit weniger als 5% aber nur einen Bruchteil der Gesamtemissionen aus dem Landwirtschafts- und Ernährungssektor aus. Die meisten Emissionen entstehen in der landwirtschaftlichen Produktion. Also macht es Sinn, dort zu produzieren, wo das am effizientesten möglich ist und dann entsprechend zu handeln. Ein Problem ist nur, dass eine solche Spezialisierung im Extremfall in Exportländern auch Monokulturen und Übernutzung von Naturräumen bedeuten kann, nämlich dann, wenn es in den Ländern keine effektiven Umweltstandards gibt. Die Lösung ist dann aber meistens nicht ein Stopp des Handels, sondern eine Stärkung der Umweltstandards in den Exportländern, was durch internationale Vereinbarungen und Wertschöpfungsinitiativen mit unterstützt werden kann.
Mit Blick auf Entwicklungsaspekte gibt es häufig die Einschätzung, dass die Ernährungssituation in den Ländern des Globalen Südens besser wäre, wenn lokal mehr Nahrungsmittel produziert würden anstatt sich auf Cash Crops für den Export zu konzentrieren. Das stimmt so pauschal aber nicht, weil die Cash Crops oft ein viel höheres Einkommen für die lokale Bevölkerung ermöglichen. Unsere eigene Forschung zeigt, dass der Anbau und die Vermarktung von Cash Crops in vielen Fällen die Einkommens- und Ernährungssituation in Kleinbauernhaushalten verbessert. Allerdings muss sichergestellt sein, dass die Märkte gut funktionieren und es für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern einen fairen Zugang gibt.

BVE: Blicken wir in die Zukunft: Welche Weichen (etwa im Hinblick auf den internationalen Handel oder das Thema Nachhaltigkeit) sollten jetzt gestellt werden, damit wir potenzielle Krisen abwenden?
Prof. Dr. Matin Qaim: Ein offenes und faires Handelssystem für Agrarprodukte und Lebensmittel ist wichtig und wird im Zuge des Klimawandels noch weiter an Bedeutung gewinnen. Natürlich sind Länder gut beraten, sich nicht zu stark abhängig von einzelnen Handelspartnern zu machen, weil das in Krisenzeiten auch Risiken birgt. Ein gewisses Maß an Diversifizierung ist in jedem Fall eine gute Strategie. Natürlich müssen wir auch die Produktivität im globalen Agrarsektor weiter steigern und das mit ökologischen Zielen in Einklang bringen. Das wird nur möglich sein, wenn wir auch neue Technologien – wie digitale und genomische Innovationen – verantwortungsvoll vorantreiben und nutzen. Schließlich werden wir aber auch im Konsum nachhaltiger werden müssen, was bedeutet, Verschwendung zu reduzieren und uns bewusster über den Umweltfußabdruck unserer Konsummuster zu werden.

BVE: Vielen Dank für das Interview!

Hier geht es zum Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF)

Der Außenwirtschaftstag der Agrar- und Ernährungswirtschaft wird gefördert durch die Landwirtschaftliche Rentenbank.

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