Herr Minhoff, wird die Ernährungsstrategie des Bundes eines der beherrschenden Themen für die Branche 2023?
Christoph Minhoff: Es wird vor allem die Arbeit der Verbände der Branche beschäftigen. Die Unternehmen haben sicher ihre eigene Agenda, denn sie haben gelernt: Politik ist flüchtig, Unternehmensgewinn überlebenswichtig. Da ist Tradition, Trend und Transformation natürlicherweise in den Geschäftsgenen und bedarf keiner Ermunterung durch einen ambitionierten Beamtenapparat. Lebensmittelverband und BVE werden jedenfalls aktiv versuchen, aus den Visionen, die auf das Jahr 2050 abzielen, Realismus werden zu lassen. Eine Mammutaufgabe, wenn man nur den Fragebogen anschaut, den das BMEL für die unterschiedlichen Themenfelder seiner Strategie an uns geschickt hat. Da geht es nicht nur um Ernährungsempfehlungen, sondern um Bildung, Angebot, Umgebung, Verwaltung, gesetzliche Rahmenbedingungen, Wissenschaft und vieles mehr. Von der Frage zur Gestaltung sicherer Schulwege bis zum Monitoring von Gesundheitsdaten ist hier alles dabei. Hier soll das ganz große Rad gedreht werden. Eine Nummer kleiner ging es offenbar nicht.
Beim Thema Ernährungsstrategie hat Ihr Verband dem BMEL einen weiteren Austausch angeboten, es gibt wieder einen Gesprächsfaden. Wo sehen Sie Stellschrauben, bei denen Sie einwirken können und möchten?
Christoph Minhoff: Angesichts des gesteckten Zieles benötigten wir eine Sonderbeilage der LZ, um diese Frage umfassend zu beantworten. Scherz beiseite: wir wollen bei allen Themen, die die Lebensmittelwirtschaft betreffen, mitwirken und mitreden. Unsere Mitglieder sind schließlich diejenigen, die einen Großteil einer Ernährungsstrategie umsetzen müssen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Souverän, der Wähler, entscheidet, wer den politischen Gestaltungsauftrag bekommt. Das respektieren wir. Die Politik setzt den Rahmen, wir IMAGO / Future Imagepositionieren uns dazu, unterstützen oder kritisieren. Aber wir entscheiden nicht. Wenn wir beispielsweise darüber reden, dass wir mehr pflanzenbetont, mehr saisonal, regional und generell mehr nachhaltig essen sollen, dann hängen da viele Faktoren dran: beispielsweise Versorgungssicherheit, Angebot, Nachfrage und ein gemeinsames, wissenschaftlich fundiertes Verständnis darüber, was wie nachhaltig ist und wie man diese Informationen den Verbrauchern zugänglich macht. Wir brauchen Realitätschecks und Folgenabschätzungen für alle Maßnahmen.
Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit der Ampel?
Christoph Minhoff: Gut Ding will Weile haben, sagt der Volksmund! Es ist ja kein Geheimnis, dass wir als Verbände mit mehr Enthusiasmus und Ungeduld der Zusammenarbeit mit dem BMEL entgegengefiebert haben als Ministerium und Minister. Jetzt sind wir hier aber auf einem guten und konstruktiven Weg. Wir haben gelernt, es gibt da innerhalb der Regierung unterschiedliche Strategien. Bundesminister Habeck und seine Staatssekretärsebene wollten sehr viel schneller unsere Einschätzungen erfahren, etwa beim Thema Gasversorgung oder Strompreise. Generell – und das geht nicht nur uns so – ist auch die Frage, inwieweit die Ampel eigentlich miteinander konsensual zusammenarbeitet. Eine Regierung, die in diesen Krisenzeiten in unterschiedliche Richtungen laufen würde, wäre ein schwieriger Partner.
Haben Sie generell den Eindruck, dass Akteure aus der Wirtschaft heute genügend Gehör in der Politik finden, um auf breiter gesellschaftlicher Basis Auswege aus der Krise zu finden?
Christoph Minhoff: Die ehrliche Antwort ist: Ich kann das so pauschal nicht beantworten. Es gibt Themen, da sind wir für das Verständnis unserer Anliegen dankbar. An anderer Stelle drängt sich der Eindruck auf, das Sachverstand der ideologischen Zielsetzung im Wege stände und deshalb wenig gewünscht ist. Was die Dauerkrisenlage der letzten Jahre befördert hat, ist jedenfalls eine beklemmende Staatsgläubigkeit und Allmachtshoffnung, die sich auch in der Wirtschaft breit gemacht hat. Da reicht kein Wumms mehr, da muss ein Doppelwumms her. Aber welche Probleme krisengeschuldet, hausgemacht oder strukturell sind, lässt sich unter dem Berg der Steuermilliarden kaum noch ausmachen. Da wird in Zukunft möglicherweise „die letzte Generation“ feststellen, dass es noch viele Generationen nach ihr geben wird, die den Schulden-Megawumms abtragen müssen. Ich glaube dagegen weiter an das eiserne Grundgesetz der Marktwirtschaft: Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer! Er ist auch nicht der bessere Elternteil oder der bessere Erzieher! Generell sind wir, glaube ich, gut beraten, wenn wir uns nicht auf Eingriffe des Staates verlassen, sondern selbständig, selbstbewusst, verantwortungsvoll und vorausschauend denken und handeln.
Die Energiekrise belastet Unternehmen wie Verbraucher. Reichen die Entlastungen durch die Energiepreisbremsen?
Christoph Minhoff: Da steckt der Teufel im Detail. Der Beschluss zur Einführung von Preisgrenzen für Strom und Gas ist angesichts der extrem gestiegenen Energiekosten zu begrüßen. Wobei wir nicht vergessen, dass diese hohen Energiekosten durch politische Entscheidungen in der Vergangenheit mit herbeigeführt wurden. Jetzt müssen wir abwarten, wie sich diese Preisbremsen in der Fläche auswirken und wie die Unternehmen de facto damit arbeiten können – ferner drohen Deckelungen und Einschränkungen aufgrund EU-Rechts. Wir stehen dazu im engen Austausch mit unseren Mitgliedern und behalten uns vor, notwendigenfalls Nachbesserungen einzufordern.
Letztlich ist doch die entscheidende Frage: Wie wird Energie wieder bezahlbar ohne staatliche Eingriffe?
Christoph Minhoff: Die Energiepreise funktionieren wie alle Preise nach demselben, einfachen Prinzip: erhöht sich das Angebot, sinkt der Preis. Je mehr Energie also – egal aus welchen Quellen – auf den Markt gebracht wird, umso günstiger wird der Preis. Wenn wir uns klarmachen, dass alle Zukunftstechnologien auf den Faktor Strom setzen, sollten wir genug davon haben. Ob Industrieanlagen, private Wärmepumpen oder Elektroautos, alle hoffen auf ausreichend günstigen Strom. Ich verstehe, warum ein grüner Wirtschaftsminister auf das Ende der Kernenergie setzt, aber ob es klug ist, eine CO-neutrale, grundlastfähige Stromquelle im April abzuschalten, wird die Zukunft weisen. Ich persönlich möchte auch daran glauben, dass wir gänzlich auf volatile regenerative Stromquellen umsteigen können – aber zur Sicherheit habe ich mir privat ein Notstromaggregat angeschafft. Die Sorge, dass das deutsche Stromnetz brüchig wird und reißt, ist bei vielen industriellen Unternehmen sehr groß. Wenn die Produktion in einer Großanlage, zum Beispiel einer industriellen Getreidemühle, einmal unterbrochen ist, dauert es vier Wochen bis sie wieder produziert. Die Politik kann und muss für eine sichere Energieversorgung zu bezahlbaren Preisen sorgen.
In der Inflation verändert sich das Verbraucherverhalten. Denken Sie, es werden gerade dauerhafte Trends gesetzt, und wenn ja, welche?
Christoph Minhoff: Es gibt zwei Aspekte, die das Kaufverhalten prägen und alle Trends in der Vergangenheit dominiert haben: Preis und Geschmack. Natürlich sind Gesundheit und Nachhaltigkeit wichtige Themen, die zu zusätzlichen Entscheidungskriterien werden. Speziell die Frage, welche der 17 Nachhaltigkeitsziele wir mit der Ernährung erreichen wollen, muss noch politisch flankiert werden. Denn manche Ziele sind miteinander kaum in Einklang zu bringen. Bei Nachhaltigkeit geht es auch um Wohlstand, Hungerbekämpfung und nicht nur um Treibhausgasemissionen, um Land- und Wassernutzung. Eine entsprechende gemeinsame europäische Kennzeichnung zu finden, ist eine ambitionierte Aufgabenstellung.
Ist der Lebensmittelhandel auf das deutsche Lieferketten- und Sorgfaltspflichtengesetzes ausreichend vorbereitet? Die Wirtschaft mahnte eindringlich vor einem drastischen Mehr an Bürokratie und Aufwand.
Christoph Minhoff: Dass die Politik betont, das menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen weltweit unteilbar sind, ist doch nicht zu kritisieren. Die Frage ist, warum gelingt es den internationalen Institutionen oder der Diplomatie nicht, solche Standards durchzusetzen. Überschätzen wir als deutsche oder europäische Gesellschaft unseren Einfluss in der Welt? Natürlich war und ist die Wirtschaft bereit, über ihre Lieferketten zu versuchen, weltweit Einfluss zu nehmen. Aber auch hier dürfen wir die Möglichkeiten eines kleinen oder mittelständischen Unternehmens nicht überschätzen. Es zeichnen sich bereits im Vorfeld Probleme bei Erkenntnisgewinnung und Bürokratie ab. Wie soll ein mittelständischer Verarbeiter, der Bestandteile seiner Produkte oder der Verpackung aus Dutzenden verschiedenen Ländern bezieht, die dortigen Produktionsbedingungen beurteilen oder gar beeinflussen? Es zeichnet sich auch ab, dass die beschlossenen Unternehmens-Untergrenze von 3.000 Mitarbeitern wenig hilfreich ist. Mich wundert nicht, dass größere Unternehmen von ihren nationalen Zulieferern nun Berichtspflichten einfordern. Wir haben das prophezeit, so ist es gekommen.
Das bedeutet aus Ihrer Sicht?
Christoph Minhoff: Insgesamt stellt sich die Frage, ob die Krise der richtige Zeitpunkt für ein solches Gesetz ist und warum es einen deutschen Sonderweg geben muss, wenn ein Jahr später ein ähnliches Gesetz auf europäischer Ebene kommen soll. Dann müssen sich Tausende deutsche Unternehmen wieder umstellen und erneut dieses bürokratische Monster zähmen. Es hätte sehr geholfen, wenn man zumindest sichere Drittländer definiert hätten, etwa die westlichen Industrienationen, bei denen man davon ausgehen kann, dass die Menschenrechts- und Umweltstandards hier eingehalten werden. Aber auch das hat man nicht getan.
Cem Özdemir ist als Minister angetreten mit dem Koalitionsziel von 30 Prozent Ökolandbauflächen bis 2030. Ist das Ziel „30 Prozent Bio auf dem Acker und im Supermarktregal“ angesichts der derzeitigen Lage im Handel realistisch?
Christoph Minhoff: Ich will an dieser Stelle nicht für die Landwirtschaft sprechen. Generell wissen wir ja seit Jahrzehnten, dass die Umstellung von konventionell auf ökologisch nicht kostenfrei zu haben und bisher in der Regel auch mit niedrigerem Ertrag verbunden ist. Wie sehr der Preis den Markt bestimmt, sehen wir an den Schwierigkeiten, die Qualität „Bio“ derzeit beim Verbraucher zu platzieren. Mich überzeugen solche „Zahlenziele“ generell nicht. Sind wir dann bei 29 Prozent gescheitert oder hören wir bei 31 Prozent auf? Solange der Verbraucher nicht mehr „Bio“ zahlt, wird es nicht mehr „Bio“ geben. Und solange man ideologisch „Bio“ überhöht und „konventionell“ diskreditiert, wird es keine tragfähige Lösung geben.
Der Minister will auch die Lebensmittelverschwendung um 50 Prozent reduzieren. Worauf kommt es Ihnen hier besonders an?
Christoph Minhoff: Wieder so eine Zahl! 50 Prozent von was? Mir ist wichtig, dass die Debatte ehrlich geführt wird. Die Selbstgewissheit, mit dem der neue Stammtisch der Protestkleber solche Zahlen in die Welt setzt, erschreckt mich schon. Es erschreckt mich auch, wie viele Lebensmittel vom Endverbrauchen achtlos in die Tonne geworfen werden. Aber den Unternehmen zu unterstellen, sie gingen achtlos mit ihren Rohstoffen um, zeigt ein großes Wissensdefizit über Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Die Zahlen, die derzeit kursieren, enthalten beispielsweise auch ungenießbare Teile wie Schalen, Kerne, Knochen, Gräten und so weiter. Dazu kommen Verluste aufgrund hygienischer Anforderungen, die gesetzlich definiert sind. Ganz nebenbei haben wir ein sehr gut funktionierendes System mit den Tafeln, mit denen unsere Branche seit Jahren eng zusammenarbeitet.
Belastend für den Handel können neue Werbebeschränkungen werden. Wie bewerten Sie entsprechende Initiativen?
Christoph Minhoff: Werbung ist Wettbewerb und Wettbewerb ist Marktwirtschaft. Wer Werbung einschränkt, schränkt den Markt ein. Wenn man das will, sollte man es den Menschen auch offen sagen – mit allen Konsequenzen. Kein Erwachsener, kein Kind wird „dünner“, wenn für einen Großteil der Lebensmittelprodukte nicht mehr geworben werden dürfte. „Dünner“ wird die Luft für diejenigen, die vom zweitgrößten Werbemarkt der Republik bisher profitieren. „Dünner“ wird die Luft für Unternehmen, die ihre Innovationen oder ihr Highlight-Produkt am Markt platzieren wollen! „Dünner“ wird die Luft für Werbekompetenz von Kindern und Jugendlichen. „Dünner“ wird der Glaube an die Lösungs- und Entscheidungskompetenz der Generation „Fridays for future“, die zwar ab 14 Jahren über ihren Glauben, ihre Organe, neuerdings über ihr Geschlecht entscheiden dürfen, aber nicht mehr mit „Werbung“ konfrontiert werden sollen.
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